Syrien
Ich grüße die Frauen der syrischen Revolution, jene, die mit dem Geschmack der Bitterkeit Bekanntschaft machen mussten.
„Guten Abend, meine Damen und Herren, es wird kein guter Abend werden.“ Mit diesen Worten leitete Maria von Welser eine Folge ihres Fernsehmagazins Mona Lisa ein, in der es um Gräueltaten ging, die serbische Truppen während des blutigen Balkankriegs der 1990er Jahre gegen tausende bosnischer Frauen verübten. Die Einzel- und Massenvergewaltigungen durch die Milizen vor und nach jeder ethnischen Säuberungsaktion waren eine der brutalsten Waffen der serbischen Seite in ihrem totalen Krieg gegen das bosnische Volk – in einem Krieg, der über bloße Massaker weit hinausging. Das Vorgehen war dabei äußerst brutal. Laut einem serbischen Feldkommandeur hätten Vergewaltigungen nicht nur weniger gekostet als Benzin und Panzer und Raketen, selbst billiger als Kugeln seien sie gewesen. Als der Wahnsinn schließlich endete, hatten über 20.000 Frauen in Bosnien und Herzegowina Bekanntschaft mit dieser Wahrheit gemacht, einige von ihnen gleich mehrere Male.
Vergewaltigung als Kriegswaffe
Fünfzig Jahre vor dieser Fernsehsendung verwüsteten deutsche Truppen nicht nur die Städte und Ebenen Polens und Russlands, sie führten ihren persönlichen Krieg auf den Körpern der Frauen, die in der Kampfzone lebten. Zum Opfer fielen ihnen dabei insbesondere Russinnen. Fachleuten zufolge kam es in den Gebieten unter deutscher Besatzung zu annähernd zwei Millionen Vergewaltigungen, inklusive der vollen Bandbreite des Gräuels und Schreckens. Später dann vergalten sowjetische Truppen, im Siegestaumel und wodkaselig, Gleiches mit Gleichem, und es kam zu kaum vorstellbaren Racheorgien, denen auch Alte und Kinder zum Opfer fielen. Bis zum Fall des Dritten Reiches mussten über 250.000 deutsche Frauen und Mädchen diese bittere Erfahrung machen, eine Erfahrung, an die sie sich bis an ihr Lebensende erinnern würden.
In der langen, düsteren Geschichte von Vergewaltigungen im Krieg gibt es ein weiteres Beispiel für systematische Brutalität und Gräuel, die 1937 durch japanische Truppen verübten Gewalttaten in der vormaligen chinesischen Hauptstadt, auch bekannt als das Massaker von Nanking. Hierbei wurde die Stadt Nanking nicht nur verwüstet und über 300.000 Zivilisten und unbewaffnete Rekruten ermordet. Innerhalb von sechs Wochen wurden auch 20.000 Frauen und Mädchen auf unvorstellbar sadistische Weise vergewaltigt. Die Erbarmungslosigkeit der japanischen Truppen und die Widerwärtigkeit, mit der sie vorgingen, brannte sich ein in das Gedächtnis dieser und der kommenden Generationen ein.
Bereits ein flüchtiger Blick auf die Konflikte und Kriege innerhalb und zwischen Staaten in den vergangenen Jahren zeigt, Vergewaltigungen waren und sind eine der grausamsten Waffen von Soldaten, Rebellen und Todesschwadronen, die versuchen, ihre Feinde („die Anderen“) zu eliminieren. Derartige Vorfälle beschränken sich dabei nicht auf Kriege zwischen Nationen und Völkern, sie geschehen in Bürgerkriegen und bei bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Gruppen, wie auch bei der Niederschlagung von Aufständen und Revolutionen in aller Welt. In Ruanda vergewaltigten sowohl Hutus als auch Tutsi während ihres Vernichtungskriegs. Die Dschandschawid-Milizen in Darfur taten es wie auch sämtliche Konfliktparteien im kongolesischen Bürgerkrieg, und bei ihren Angriffen auf die Dörfer und Städte West-Libyens vergewaltigten Gaddafis Milizen Frauen bei ihren wiederholten Versuchen, die Rebellion niederzuschlagen. Auch Assads Milizen in Syrien gehen nicht anders vor.
Sexuelle Gewalt in Syrien als Strategie
Kaum ein Jahr nach Beginn des Aufstands in Syrien tauchten aus einer Reihe von Quellen erste Berichte auf, denen zufolge Armee, Sicherheitskräfte und Geheimdienste des Regimes in Dörfern und Städten, die den Aufständischen zugerechnet wurden, Frauen vergewaltigten. Diese Berichte, die sich nicht allein auf die Aussagen von Rebellen stützten, deuteten darauf hin, dass es Dutzende solcher Fälle gab, der brutalste der zweier Mädchen, die eine zehn, die andere vierzehn Jahre alt, die vergewaltigt und geschwängert worden waren. Es gab weitere Berichte von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen von sowohl weiblichen wie auch männlichen Gefangenen – selbst von Kindern –, zu denen es in Verhörzentren, Einrichtungen der Sicherheitskräfte und des Geheimdienstes gekommen war. Einige dieser Übergriffe lassen sich auf sadistische und sexuelle Motive der unmittelbaren Täter zurückführen, zu anderen kam es wohl auf Befehl einiger Offizieller in den jeweiligen Einrichtungen, die so gewissermaßen ihrer Anspannung Luft machten, nachdem sie monatelang dem mutigen Aufschrei vormals gefügiger syrischer Bürgerinnen und Bürger ausgesetzt gewesen waren.
Für den Balkankrieg und für einige Bürgerkriege in Afrika gibt es Belege, dass Vergewaltigungen entschiedener Teil einer umfassenden Strategie waren, mit dem Ziel, den Widerstand des Feindes zu brechen, und das besonders in Fällen, in denen die Anführer ethnische Säuberungen anstrebten. Wahnvorstellungen von rassischer Überlegenheit und historischem Unrecht (ob weit in der Vergangenheit oder kürzlich zugefügt, ob wahr oder unwahr), dienten dazu, die Milizen und Fronttruppen aufzuhetzen und die Lunte zu entzünden, die dann die zügellose und zerstörische Brutalität explodieren ließ – die schlimmste aller Massenvernichtungswaffen. Das Phänomen der „politischen Vergewaltigung“ in Konflikten und Kriegen bedarf der genauen Betrachtung. Warum brechen sexuelle Instinkte so grausam und brutal hervor, auch wenn auf dem Schlachtfeld eine Seite militärisch überlegen ist und die Lage kontrolliert? Manche sind der Ansicht, die Sozialbiologie sexuell ausgehungerter, angespannter Kämpfer gehe hier eine Verbindung ein mit hormonellen Faktoren, nämlich „männlichen Siegern“, die von einem hohen Testosteronspiegel angetrieben würden. Dies wiederum steigere sich zu einer Massenhysterie, in der die Einzelnen und ihre Wertvorstellungen von der tierischen Energie einer männlichen Masse überwältigt werden, worauf Horden blutrünstiger Soldaten über ihre Opfer herfallen. In einer solchen Situation werden Frauen und wird alles, was mit dem anderen Geschlecht in Verbindung gebracht wird, zu Gegenständen primitivster, brachialer Gewalt.
Das allein kann jedoch nicht ausreichend erklären, wieso und wann es zu politischen Vergewaltigungen kommt, insbesondere nicht bei Bürgerkriegen, in denen es zu extremer Gewalt kommen kann, wenn versucht wird, „die Anderen“ auszulöschen, zu vernichten und zu erniedrigen. Hier haben wir es mit dem eigentlich Wesenhaften von politischer Vergewaltigung zu tun. Wenn man die verborgene Bedeutung genau untersucht, die systematische Vergewaltigungen in Kriegen, Konflikten und bei der Niederschlagung von Aufständen haben, stößt man auf den eindeutigen Zusammenhang zweier Faktoren: Zum einen geht es darum, dass die Täter, als Einzelne wie als Masse, das Bild des Feindes als „des Anderen“ haben. Es drückte sich in dem berüchtigten „Wer seid ihr?“ aus, das Gaddafi in seinen wirren Reden, in denen er verquaste Theorie mit wüsten Drohungen verband, herausschrie. Zum anderen geht es um ein tief sitzendes Gefühl von Macht und Herrschaft, ein Gefühl, das sich verbindet mit einer noch stärker verwurzelten Empfindung, diese Macht auch ausüben zu müssen, sie so brutal wie möglich zu zeigen, damit das Opfer begreift, wem es gegenübersteht. Dies drückt sich in der Frage „Ihr wollt also frei sein?“ aus, einer rhetorischen Frage, die von zügelloser Macht, von brutalen, blutrünstigen Rachegelüsten zeugt.
Trauma und Selbstschutz
Hört man von „tausenden“ oder „hunderten“ oder „dutzenden“ Fällen, so darf man hinter den Zahlen nie vergessen, wie ausgesprochen leidvoll jeder einzelne Fall für die Opfer ist. Das Verbrechen der Vergewaltigung unterscheidet sich von allen anderen Arten der Gewalt gegen Frauen, da es mit einer gnadenlosen, alles umfassenden Wahrnehmung einhergeht, welche das Opfer ganz umschließt und alle Sinne gleichzeitig angreift. Da der Täter sich den Körper des Opfers zu eigen macht, werden die Grenzen des „verkörperten“ Selbst verletzt. Die Wahrnehmungen, die diese Grenzen bezeichnen, werden bei der gewaltsamen Inbesitznahme durch den Täter zerstört, der so versucht, ein äußerstes Maß an geistigem und körperlichem Schmerz zu verursachen. Obgleich Seh-, Hör- und Tastsinn eine große Angriffsfläche bieten, ist es oft die Verletzung des Geruchssinnes, die im Gedächtnis des Opfers die schlimmsten und tiefsten Narben hinterlässt. Nach der Schlacht verziehen sich der Gestank von Pulver und Brand, bei Vergewaltigungen jedoch bleiben die Gerüche, die mit dem Angreifer und dem Ereignis in Verbindung stehen, oft unauslöschlich und verfolgen das Opfer unablässig und gnadenlos wie ein Rudel hungriger Wölfe.
„Sie befahlen uns, rund um den Platz niederzuknien, und nahmen die Binden von unseren Augen. Erschrocken sahen wir ein Mädchen von Anfang zwanzig, die an ein Bett gefesselt und ganz nackt war. Ein Offizier der Sicherheitskräfte vergewaltigte sie. Das Mädchen sah völlig erschöpft aus. Sie weinte nicht, noch schrie sie. Es war, als hätte sie jedes Gefühl verloren – als könne sie nicht fühlen, was mit ihr geschah.“ (1)
Aus der Fachliteratur über traumatische Störungen wissen wir, dass bedrohliche und entsetzliche Ereignisse wie zum Beispiel eine Vergewaltigung unbewusste psychische Schutzmechanismen auslösen, die es erlauben, dass wir uns einer Situation „entziehen“. Dies erweckt den Anschein, das Opfer liefere sich dem Angreifer vollkommen aus, während es gleichzeitig die Ereignisse „dissoziiert beobachtet“.
Das bekannte Phänomen der Dissoziation ist der Versuch des Unbewussten, die Heftigkeit eines Traumas abzupuffern, und so einen vollständigen psychischen Zusammenbruch zu vermeiden. Während dieser Abläufe produziert das Gehirn psychoaktive Substanzen wie z.B. Opiate und Endorphine um die körperliche Schmerzgrenze anzuheben, während gleichzeitig diejenigen Teile des Gehirns, die für das Kurzzeitgedächtnis zuständig sind, blockiert werden, indem große Mengen des „Stresshormons“ Cortisol in den Hippocampus ausgeschüttet werden. Obwohl der menschliche Körper auf Gefahr in der Regel mit einem Flucht- und Verteidigungsreflex reagiert, wird dieser bei einer Vergewaltigung wegen des hohen Maßes an Gewalt nicht aktiviert. Die Dissoziation stellt hier die letzte Verteidigungslinie dar, durch die das Opfer das Ausmaß des Traumas und des durch eine Vergewaltigung verursachten physischen wie psychischen Schmerzes mindern kann.
Die Art und Weise, in der Opfer reagieren, darf uns nicht überraschen, und nie dürfen wir naiv fragen, warum ein Opfer nicht dies oder jenes unternommen hat. Tut man dies, setzt man das Opfer ein zweites Mal einer Vergewaltigung aus.
Eines Tages wird es ein neues Syrien geben und, wie zuvor Deutschland und Russland, wird es ein blühendes Land werden. Kommt dieser Tag, müssen wir ihn behutsam begehen, müssen uns Zeit nehmen, denn es kann sein, dass der Boden, auf dem wir uns bewegen, derselbe Boden ist, auf dem sich hilflose, ohnmächtige Frauen in Schmerzen gewunden haben. Dann müssen wir uns fragen: „Was haben wir getan, um zu verhindern, dass diese Massenvernichtungswaffe eingesetzt wurde?“ Und vielleicht werden diese Seelen, die zugleich leben und tot sind mit ihrer eigenen und noch tieferen Stille für uns um Vergebung bitten... Friede sei mit Euch!
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Dieser Artikel erschien ursprünglich in arabischer Sprache auf der Website al-Awan. Übersetzung und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
(1) Bericht eines inzwischen freigekommenen Gefangenen über Vorfälle in einem Gefängnis des syrischen Regimes.
Dieser Artikel gehört zum Dossier Syrien zwei Jahre nach Beginn des Aufstands der Heinrich-Böll-Stiftung.
Das Dossier versammelt analytische Artikel und Interviews, die die Geschehnisse in Syrien aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Es erlaubt durch Videos unserer Projektpartner im Libanon auch einen Einblick in die Perspektive syrischer Aktivisten, die ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft künstlerisch Ausdruck verleihen. » zum Dossier
2013